Franz Martin Olbrisch
"Ein Kunstverständnis, das auf Kommunikation beruht, zeigt die Dinge in ihrer Vielschichtigkeit, zeigt Möglichkeiten auf, die über die Vertrautheit der Welt hinausgehen und bietet dadurch dem Betrachter neue Einsichten und Erkenntnisse, statt ihn an eine Welt erträumter Sehnsüchte zu binden."
(Franz Martin Olbrisch)
Die Räume von Franz Martin Olbrisch sind Wahrnehmungskabinette. Dichte, feinstofflich aufgeladene Gebilde, in die der Besucher spürbar eintaucht. Er wird selbst zu einem Teil dieses Gebildes, Teil eines geradezu haptisch erlebbaren Zusammenspiels von Klang, Bild und Bewegung, von Erinnerung und Assoziation, von Projektion und Reflexion. Olbrisch schafft "in Anlehnung an die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns" geschlossene kommunikative Systeme; von Modellen referenziellen Denkens abgegrenzte, pluridimensionale Räume. Raum definiert sich dabei aus Ort und Zeit, schließt gleichermaßen architektonische, geschichtliche und gesellschaftliche Merkmale, sowie individuelle Erfahrungen mit ein. Durch "Maßnehmen, Vermessen, Stapeln, Schichten", entdeckt Olbrisch die in einem Raum geborgenen Simultaneitäten, fächert ihre Schnittstellen und Parallelverläufe sinnlich auf und überführt sie künstlerisch in ein Gleichzeitig-Nebeneinander.
Streunen, verweilen, streunen
Als "Event" oder "Interaktionsflächen" bezeichnet der 1952 in Mühlheim an der Ruhr geborene Komponist seine intermedialen Arbeiten. Nach einer Ausbildung zum Landvermesser, ein wie er selbst sagt "kafkaesker Umweg", studiert Olbrisch von 1979 bis 1985 an der Hochschule der Künste in Berlin Komposition. Im Rahmen eines Stipendiums des Berliner Kultursenats verwirklicht er 1988/89 für die Neue Nationalgalerie sein erstes Event: Im Anfänglichen läuft keine Spur - wer könnte da suchen für drei Aktionskünstler, fünf Instrumentalisten und Live-Elektronik. Bereits hier sind Rezipient und Betrachtungsperspektive als integraler Bestandteil einer Komposition mit reflektiert: Durch die transparente Fassade des Mies-van-der-Rohe-Baus sind Außenwelt und Innenraum, Umwelt und Kunst getrennt und dennoch verbunden. Akustische und visuelle Informationen überlagern sich. Die Zentralperspektive ist aufgehoben, das Publikum bestimmt seinen Standort selbst. Dahinter steht die Überzeugung Olbrischs, dass sich in der Kunst kein Standpunkt mehr festlegen lässt, von dem aus das Ganze richtig beobachtet werden könne. "Jede Position hat ihren eigenen ästhetischen Wertung", so der Komponist. Dieser Ansatz findet ab 1988 in den unterschiedlichen Formaten aller seiner Werke künstlerischen Ausdruck.
Ins Ungewisse
"Anfänge haben immer etwas Willkürliches", lautet eine weitere Überzeugung Olbrischs, der bereits seit 1986 einer umfassenden Lehrtätigkeit nachkommt und seit 2008 Professor und Leiter des Studios für Elektronische Musik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden ist. Auch unsere Wahrnehmung hat etwas Willkürliches. Was wir nur streifen, wo wir verweilen, welche Zusammenhänge wir herstellen, all das resultiert aus einem komplexen Zusammenspiel von Beobachtungen und Erfahrungen, von einer "zufällig oder bewusst" eingenommenen Position. Damit ist sie jedoch nicht voraussetzungslos. Ebenso wenig wie die Räume Olbrischs. Diese sind Erfahrungsräume. In wahrsten Sinne besinnliche Räume, erfüllt von Vergessenem, Jetzigem, Offensichtlichem, Abwesendem, Eigenem und Fremdem: den verschlungenen Spuren ihrer Geschichte. Wie das Musik-Environment Dissimilation (1999), eine ortsbezogene Arbeit für die Wittener Zeche Nachtigall, die auf unterschiedliche Weise Bezüge zum einstigen Kumpelalltag herstellt: etwa durch vereinzelte Kohlehaufen und verstreute Bittschreiben der Bergarbeiter an Behörden. Aus diesen Briefen werden einzelne Passagen gelesen. Gelegentlich mischen sich Einschübe u.a. aus romantischer Bergwerksliteratur dazwischen. Aus den Lautsprechern sind Klänge wie Klopfen, Schleifen oder Wassergeräusche zu hören. Auf dieses Klanggeschehen können die Besucher durch einen Klingelknopf Einfluss nehmen. Die Gesamtheit ihrer Aktionen fließen in einen Algorithmus ein und verändern so indirekt das hörbare Resultat.
Begegnungen, flüchtig
"Das Labyrinth der Orte und Zeiten, deren Abbilder sich zu einer neuen Einheit montieren und damit ihre Herkunft verfälschen - obwohl sie weiterhin die Geschichte dieser Herkunft transportieren, muss selbst zum Gegenstand der künstlerischen Formung avancieren."
In dieses Labyrinth trägt Olbrisch sein akustisches Material aus dem "Steinbruch" der Hör-Welt: gesprochenes oder gesungenes Wort, Instrumental- und elektronische Klänge, Aufnahmen aus der Umwelt oder Splitter aus zeitgenössischen Werken seiner Kollegen - letztere allerdings so "verfälscht", dass ihre Ursprünge nicht mehr auszumachen sind. Zitate gleichen archäologischen Funden. Sie geraten jedoch nicht zum linearen Verweis, sondern erhalten eine neue, momentane Gültigkeit. In der Klanginstallation Infinito blanco, entstanden 2009 im Kontext eines Konzertes Neuer Musik für die Goldhalle im Rundbau des Hessischen Rundfunks, verarbeitet Olbrisch "Scherben aus Werken der zeitgenössischen Musik". Von unzähligen weißen Flächen werden diese als vereinzelte, fast zusammenhangslos wirkende Klangereignisse wie Lichtstrahlen in den Raum geworfen - die kompositorische Antwort auf die befremdlich repräsentative Distanziertheit, die Olbrisch an diesem Ort empfand. Das Adjektiv "blanco" im Titel bedeutet hier nicht nur "weiß", sondern auch "leer" und verweist darauf, dass der Rundbau ursprünglich als möglicher Plenarsaal des Deutschen Bundestages gebaut worden war, woran heute nichts mehr erinnert.
Widerschein, Widerhall
Seit Anfang der 1990er Jahre entstand rund die Hälfte von Olbrischs intermedialen Arbeiten in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Beate Olbrisch. Sie integrieren Foto- und Videosequenzen von palimpsesthaft wirkenden Bildern, schemenhaft überlagerte Momente von unterschiedlicher Intensität - auch sie verbergen Teile ihres Ursprungs. Ein Beispiel der Zusammenarbeit ist das Konzertenvironment Schichtwechsel - temps et mouvement (2006). Der Besucher erfährt durch drei auf dem Fußboden verteilte Projektionsflächen eine ungewöhnliche Nähe zu den bewegten Bildern. In die Projektionsflächen eingearbeiteten Spiegel werfen darüber hinaus Teile des Videos in den Raum und lassen umgekehrt Teile des Raumes und des Publikums in den Projektionen erscheinen. Der Klang dagegen scheint aus dem Nichts zu kommen; gleichzeitig wirken die Sampleschichten wie akustische Fotografien in einer "eingefrorenen Zeit"
Gerade in Arbeiten wie diesen wird auf besondere Weise sinnlich wahrnehmbar wie Informationen verschmelzen und doch ihre Identität bewahren. Franz Martin Olbrisch schickt das Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen seiner Besucher auf die Reise. Eine Reise durch die "Labyrinthe der Orte und Zeiten", deren verschlungene Pfade jeder auf eine andere, seine eigene Weise beschreitet.
Susanne Laurentius
produktion
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Zeitgenössische Musik
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kuratoren der ausstellung
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Johannes S. Sistermanns