Das akustische Palimpsest

"Die Orte und Räume, in denen ich mich bewege, empfinde ich normalerweise als definiert und bestimmt. Ich weiß, wo meine Küche ist, erkenne meine Straße und das Haus, in dem ich wohne. Aber wie ist es, wenn sich das Zusammenspiel von meinem Ordnungsmodell mit den Ereignissen um mich herum nicht mehr deckt?" (Roswitha von den Driesch & Jens-Uwe Dyffort

 

Wir sind es gewohnt, Räume optisch zu definieren und eine Strecke anhand visueller Wegmarken zu beschreiben. Niemand sagt: "Gehen Sie geradeaus, bis Sie das Rotkehlchen hören, und biegen Sie links ab, wo der Presslufthammer das Geräusch der Polizeisirene übertönt." Roswitha von den Driesch und Jens-Uwe Dyffort schaffen hingegen akustische Räume, die sich den vermeintlichen Gewissheiten der optischen Wahrnehmung entgegenstellen. Die beiden Berliner Klangkünstler, die seit 1996 zusammen arbeiten und 2006 mit dem Deutschen Klangkunstpreis ausgezeichnet worden sind, entwerfen artifizielle Klangambiente, stecken akustisch Flächen und Wege ab und legen so Räume frei, die vom Gang der Geschichte verschüttet worden sind oder die erst in Zukunft erschlossen werden. Ihre Arbeiten gleichen einem Palimpsest, sie legen Überschriebenes und Verborgenes frei. Und ihre Installationen sind keine Inszenierungen, geben Driesch und Dyffort zu verstehen, sondern eine Erweiterung des Raums, die eine neue Erfahrung erschließt.

 

Punktierte Gegenwart

Zu ihren wichtigsten Strategien gehört die Punktierung. Verhaltene Klicklaute lenken die Aufmerksamkeit des Publikums in eine andere Richtung, als es abgetrampelte Pfade und betonierte Gänge tun. Ganz gleich, ob es um eine seit langem umgeleitete, überwucherte Allee im Donaueschinger Schlosspark geht (Punktierte Allee, 2009), um die Mauern des ehemaligen Hamburger Bahnhofs in Berlin (Punktierter Garten ? Punktiertes Fragment, 2008) oder um den Kreuzgang eines umfunktionierten Klosters in Metz (Punktierter Garten ? Cloître des Rècollets, 2008) ? stets weisen die Klangpunkte auf verborgene architektonische Schichten hin. Die betont schlichten Klicklaute, die dadurch entstehen, dass die Piezolautsprecher nur an- und abgeschaltet werden, betten sie behutsam in ihre Umgebung ein. Sie verschmelzen mit Naturlauten, mit Insektengeräuschen und rauschendem Blattwerk, aber auch mit Verkehrslärm, wodurch sie den jeweiligen Situationen eine zweite Natur verliehen.

 

Der akustische Nachbar

In ihrer Subtilität drängen sich diese Installationen nicht auf. Stattdessen irritieren sie mit ihrer Ambivalenz und ihrem Sinn für Möglichkeiten. Besonders deutlich wurde das in zwei Arbeiten, die leeren Räumen ein fiktives Leben einhauchten. In Zeitweiliger Wohnsitz Grünstraße 18 und 19 (2000) und Hofgeschehen (Hartmanns Sonntag) (2003/2004) wurden leer stehende Gebäude mit den Alltagsgeräuschen erfundenen Bewohner beschallt. Hier lässt jemand ein Bad ein, dort dreht jemand das Radio auf, ein Paar streitet sich, ein Baby schreit ? all das wird auf die 24 Stunden des Tagesablaufs abgestimmt. Von außen ließ sich all das bestenfalls erahnen, was zur Wirklichkeitsnähe der Kulisse beitrug und schließlich sogar dazu führte, dass Anrufe bei der Polizei eingingen, die die vermeintlichen und vermeintlich unrechtmäßigen Bewohner anzeigten.

 

Der Möglichkeitssinn der Klangkunst

Driesch, die sowohl Architektur als auch Klangkunst und freie Kunst studierte, und Dyffort, der der Ausbildung nach Komponist und Softwareentwickler ist, geht es nicht um schiere Provokation. Vielmehr thematisieren ihre Arbeiten Überhörtes und Übersehenes, zeigen Spuren, die sich dem Betrachter nicht gleich erschließen, sondern sich erst infolge ihrer akustischen Ausarbeitung offenbaren. Das ?was wäre wenn? ist Ausgangspunkt vieler ihrer Stücke. Was wäre, wenn sich der Kollaps eines Raums akustisch vergegenwärtigen ließe? 14 Mikrofone wurden in den Trümmern eines Wohnblocks in Marl begraben, der 2006 gesprengt wurde, um diese Frage zu beantworten (Goliath, 2006). Die Implosion des verschwindenden Raums, die die Aufnahmen dieser Mikrofone unmittelbar vor ihrem Ende dokumentieren, verleiht der latenten Akustik der Architektur eine geradezu gespenstische Physiognomie und lässt ahnen, dass etwas Lebendiges stirbt, wenn als Wohnraum vorgesehene Betonwände in sich zusammenfallen. Was wäre, wenn wir ein Gespräch auf die kommunikativen Beiläufigkeiten reduzierten? Was, wenn wir nur Verlegenheitslaute von "äh" bis "mh" wahrnehmen. In ihrer 2008 realisierten Installation ATS-1 füllten sie die Goldhalle des Hessischen Rundfunks (Frankfurt am Main) mit all jenen Äußerungen, die im Radio üblicherweise eliminiert werden, um aus dem Stammeln und Zögern die Peripherie des Sprechakts herauszufiltern. Was, wenn wir Schallplatten nur auf ihren Anfang und ihr Ende hin abhörten? Wenn wir uns ganz auf das Knistern der leeren Rille konzentrierten? Mit ihrem Hörstück 33.3 (2005) exponierten Driesch und Dyffort zufällig zwischen den Rillen auftretende Klänge, die sich rational nicht zuordnen lassen und uns darauf hinweisen, dass sich auch dort, wo nichts zu sein scheint, akustisch etwas manifestiert. Diese in ihrer Ausarbeitung oft unscheinbaren Installationen schlagen eine metaphysische Brücke ins Geisterreich der Töne, wo uns eine andere Wirklichkeit erwartet.

 

Björn Gottstein

 



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